Die 30-Jährige ist auffallend modisch gekleidet. «Nie hätte ich gedacht, dass ich es nötig haben würde, mir helfen zu lassen», sagt sie. «Bis vor einem Jahr ging es mir und meinem Ex-Partner gut, wir waren guter Mittelstand.» Die Therwilerin hatte eine gute Stelle in einem Spital. Doch dann wurde sie krank, sie trennte sich von ihrem Freund. Eine Invalidenrente wird derzeit abgeklärt. Mit der Sozialhilfe als Überbrückung kommt sie mehr schlecht als recht durch und sagt: «Jetzt merke ich, was ich früher alles hatte und dass das alles nicht selbstverständlich war.»
Vor drei Monaten hat sie den Schritt zum Verein Phari gewagt. Hier, in einem unscheinbaren Wohnblock in Therwil, gibt es für arme Menschen aus dem Leimental jede Woche eine grosse Papiertüte: Drin sind Grundnahrungsmittel wie Teigwaren, Glaskonserven und Dosen, aber auch frische Früchte und Gemüse, Konfitüre, Kaffee und Schokolade.
Die Notlage in der Vorortschweiz
Die Therwilerin, die wie alle hier ihren Namen nicht angeben will, ist froh über den materiellen Zustupf. Denn sie weiss: Alles nicht Vorhergesehene kann sie finanziell aus der Bahn werfen. So hat sie Angst, einen ihrer Hunde zum Tierarzt bringen zu müssen. Und dass sie vielleicht mal zum Zahnarzt muss, daran will sie lieber gar nicht denken: «Die Rechnung könnte ich ganz sicher nicht bezahlen.»
Hier beim Verein Phari erhält sie neben den Esswaren auch Hygieneprodukte und darf sich Kleider aussuchen. «Und vor allem nimmt man sich hier Zeit für uns, es ist keine Massenabfertigung.» Denn das ist das Konzept von Phari: Nicht nur die materielle Not wird gelindert. «Wir wollen einen Ort bieten, an dem sich die armen Menschen wohl fühlen», sagt Gabi Huber, die den Verein zusammen mit Brigitte Marques 2015 gegründet hat. Deshalb haben die beiden den Raum gemütlich eingerichtet. Es gibt gratis Kaffee oder Tee, Sandwiches oder süsse Weggli für alle. Die Atmosphäre ist ausgelassen, der Lärmpegel hoch.
Shopping in normalen Läden? Nein.
Wer will, erhält Beratung und wird an Fachleute verwiesen. Der Verein finanziert auch mal eine Weiterbildung oder eine Winterjacke, damit ein Kind ins Lager gehen kann, und hilft bei der Wohnungssuche – gerade Letzteres ist im Leimental nicht einfach. «Sachen, die für die meisten Menschen alltäglich sind, sind es für Arme nicht», sagt Huber. Das bestätigt eine Bottmingerin mittleren Alters, auch sie ist chic angezogen. Sie brauche eigentlich keine neuen Kleider, sagt sie. «Aber vielleicht finde ich heute doch noch was Schönes, an dem ich Freude habe.»
Shopping in normalen Läden liegt für sie nämlich nicht drin. Seitdem die Miete ihrer Genossenschaftswohnung um 350 Franken stieg, ist sie finanziell am Anschlag. Deshalb besucht sie immer wieder Kleiderbörsen, etwa diejenigen der Kirchen im Leimental. «Meine halbe Garderobe kommt von dort», sagt sie. Bei Phari hat sie jetzt einen Pulli gefunden und nimmt auch gerne eine Tüte voller Lebensmittel für sich und ihren Sohn mit. Wie viele, die zum Verein Phari kommen, ist sie alleinerziehend.
Und die Senioren hungern lieber
Zielgruppe von Phari sind einerseits Menschen, die Sozialhilfe beziehen, damit aber kaum durch kommen; andererseits Working Poor. «Viele haben zwar Arbeit, aber ihr Lohn reicht einfach nicht», sagt Huber. Manche Eltern gäben alles für ihre Kinder aus, und dann bleibe für sie selber nichts mehr übrig. Oder sie stünden nach einer Scheidung vor dem Nichts. Wöchentlich gehen bei Phari über 50 Tüten an Hilfsbedürftige aus dem Leimental.
Dieser Teil des Baselbiets gilt nicht gerade als Armenhaus. Doch der Verein könnte mehr Tüten abgeben als bisher, der Bedarf wäre da. «Wir müssen derzeit leider Leute abweisen», sagt Marques.
Das soll sich bald ändern, wenn der Verein in grössere Räumlichkeiten in Therwil umzieht und im März eine Abgabestelle für Lebensmittel in Reinach öffnet. In Basel gebe es einige vergleichbare Einrichtungen, sagt Marques, und Kleidertauschbörsen gebe es in den Baselbieter Gemeinden auch. «Aber ansonsten sind wir im Baselbiet einzigartig», sagt Huber. «Dabei gibt es auch bei uns viel Armut. In Reinach ist das ganz sicher nicht anders als im Leimental.» Doch Huber und Marques stossen immer wieder auf eine Schwierigkeit: Die Armut ist versteckt, die Betroffenen versuchen sie nicht zu zeigen.
Die Altersarmut ist sehr gross
«Wenn sie zu uns kommen, haben sie den ersten Schritt schon getan, um sich helfen zu lassen», sagt Huber. Jetzt hoffen die beiden, dass sich die neue Abgabestelle in Reinach herumspricht und die armen Menschen auch wirklich kommen. Vor allem Senioren hätten viel Scham, stellen sie immer wieder fest. «Manche hungern lieber, als dass sie Unterstützung beanspruchen», sagt Huber. «Dabei ist die Altersarmut bei uns sehr gross.»
Zum ersten Mal bei Phari ist eine Mutter, die ihren fast erwachsenen Sohn mitgebracht hat. Nervös schaut sie, wie eine Helferin zwei Tüten für sie füllt. Es ist ihr offensichtlich unangenehm. Ob sie Kaffee oder Tee lieber habe, wird sie gefragt. Dass man sie nach solchen Wünschen fragt, das ist sie nicht gewöhnt. «Früchtetee, bitte», sagt sie dann – und lächelt schüchtern. Ihr Sohn blickt in die Tüten. «Dürfen wir das wirklich alles mitnehmen?», fragt er ungläubig, «einfach so?» Später wird die Mutter aufgrund ihrer Steuererklärung dem Verein Phari darlegen müssen, dass sie die Hilfe auch wirklich nötig hat. Erst dann erhält sie eine Karte, die sie vorweisen muss, wenn sie Lebensmittel oder Kleider beziehen will.
Denn Huber und Marques legen Wert auf klare Strukturen. Huber arbeitet in einem Sekretariat, Marques führt ein Malergeschäft und sagt: «Wir funktionieren wie ein kleines KMU.» Der Verein beansprucht die beiden je zu etwa 30 Prozent. Auf die Idee für Phari – lateinisch für «Leuchtturm» – kamen sie, als sie in ihrem Umfeld arme Menschen sahen. «Uns war es wichtig, möglichst unbürokratisch Hilfe anzubieten», sagt Marques.
Die Esswaren, die der Verein verteilt, werden hauptsächlich von der Schweizer Tafel geliefert. Der Rest, auch die Kleider, ist gespendet, von Einzelpersonen oder von Firmen. Auch von Gemeinden und Kirchen kommt Geld. Der grösste Posten, den der Verein decken muss, ist die Raummiete. «2019 ist gedeckt», sagt Huber. «Wie wir das Jahr 2020 finanzieren, wissen wir aber noch nicht.» Auch die Bezüger müssen ihren Anteil an der Finanzierung des Vereins leisten. Pauschal zahlt jeder pro Woche zwei Franken, gewisse Kleidungsstücke kosten zusätzlich.
Für manche ist sogar das zu viel, so auch für die Mutter, die einen Wintermantel mitnehmen möchte. «Zwei Franken bitte», kriegt sie zu hören. Sie murmelt verlegen: «Kein Geld.» Den Mantel darf sie trotzdem mitnehmen. «Sie wird einfach das nächste Mal zahlen», sagt Huber. Für sie ist die Frau kein Einzelfall: «Manche Leute haben am Ende des Monats gar nichts mehr übrig, das ist bei uns der ganz normale Alltag.»
Michel Ecklin